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„Die Welt mit den Augen der Kinder sehen“

Klingenmünster. Nach einer Begrüßung von Dr. Michael Brünger, Chefarzt des Pfalzinstituts – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, leitete Cordula Münz, Oberärztin der Ambulanzen des Pfalzinstituts, zum Gastvortrag von Prof. Dr. Manfred Hintermair, Institut für Sonderpädagogik, Pädagogische Hochschule Heidelberg, über: „Ich freue mich, dass Sie uns heute Erfahrungen und Ergebnisse ihrer jahrzehntelange Forschungs- und Lehrtätigkeit im Bereich der Hörbehinderung präsentieren. Ihre wissenschaftlichen Untersuchungen entstehen nicht im ‚universitären Elfenbeinturm‘, sondern zeichnen sich durch Praxisnähe aus und geben konkrete Impulse für die Arbeit mit hörbehinderten Menschen.“
Der Referent analysierte in einem zweistündigen, lebhaften Vortrag die besondere Situation von hörgeschädigten Kindern. „In den letzten 20 Jahren hat es viele Fortschritte gegeben, daher ist der Kreis der Kinder, die Probleme in ihrer Entwicklung haben, um einiges kleiner geworden. Bei hörgeschädigten Kindern handelt es sich um eine sehr heterogene (uneinheitliche) Gruppe. Vielfach haben die Kinder nicht nur eine Hörschädigung, sondern noch eine weitere Beeinträchtigung. Es gibt aber noch viele andere Merkmale, die hierzu beitragen, z.B. die unterschiedliche Hörfähigkeit der Kinder, unterschiedliche Ursachen für eine Hörschädigung und weitere. Generell hat dies zur Folge, dass es nicht ‚die richtige Methode‘ für die Beschulung oder Behandlung hörgeschädigter Kinder geben kann. Jedes Kind muss individuell betrachtet werden, “ erklärte Prof. Dr. Hintermair einleitend.
Er beleuchtete die psychologischen Herausforderungen für hörgeschädigte Kinder und arbeitete in Interaktion mit dem Publikum wesentliche Aspekte heraus: „Hörgeschädigte Kinder haben zum Beispiel nicht im gleichen Ausmaß die Möglichkeit beiläufig zu lernen, so wie das bei hörenden Kindern der Fall ist. Das beeinflusst zahlreiche Entwicklungsprozesse hörgeschädigter Kinder. Es erschwert die interaktive Welterschließung, aber auch das Lernen und die sozial-emotionale Entwicklung. Mangelnder Zugang zur Sprache hat deshalb auch Einfluss auf zwei weitere Aspekte, nämlich die sozial-kognitive sowie die sozial-emotionale Entwicklung. Sozial-kognitiv bezieht sich hierbei auf die Fähigkeit, sich in andere hinzuversetzen, eine andere Perspektive zu übernehmen. Zusätzlich geht es bei dieser Ebene um den Erwerb von Regulations- und Kontrollmechanismen, den exekutiven Funktionen. Studien belegen, dass Kinder mit besserer Sprachentwicklung auch bessere exekutive Funktionen besitzen. Der sozial-emotionale Aspekt bezieht sich auf das Selbstwertgefühl, sozial-emotionales Verhalten und auf die Lebensqualität. Wenn hörgeschädigte Kinder frühen Zugang zur Sprache erhalten, egal ob gesprochene Sprache oder Gebärdensprache, ist auch deren weitere Entwicklung mit höherer Wahrscheinlichkeit unproblematisch. Ein eingeschränkter Zugang zur Sprache ist der Beginn eines Teufelskreises. Ein eingeschränkter sprachlicher Input wird im Gehirn entsprechend reduziert abgespeichert und kann so über Jahre dazu führen, Erfahrungen nur eingeschränkt zu verarbeiten. Die große Herausforderung für hörgeschädigte Kinder ist also darin zu sehen, dass sie häufig nur bruchstückhaft wahrnehmen.“ Prof. Dr. Manfred Hintermair wies darauf hin, dass es positive Entwicklungen in der Hörgeschädigtenpädagogik gäbe, dass aber dennoch die Entwicklungsergebnisse hörgeschädigter Kinder sehr variabel seien. Im Zuge der Inklusion wird „die große Herausforderung der nächsten Jahre insbesondere darin bestehen, die Beziehung zwischen hörenden und nicht (gut)-hörenden Kindern oder Menschen besser zu gestalten. Hier ist ein Dialog auf Augenhöhe erforderlich und man sollte die ‚Welt mit den Augen der Kinder sehen‘, um eine amerikanische Kollegin, Carol Erting, zu zitieren, “ ergänzte Hintermair abschließend. Nach der Veranstaltung konnten sich die Anwesenden mit dem Experten austauschen und ihre Fragen stellen.
Seit 2015 hat sich eine Zusammenarbeit zwischen der Institutsambulanz des Pfalzinstituts (PI) und dem Referenten entwickelt. Der gegenseitige Austausch zeigt sich nicht nur daran, dass Prof. Dr. Hintermair zu einem Gastvortrag nach Klingenmünster kam. Auch Cordula Münz hatte im November die Gelegenheit, ein Seminar für Studierende von Prof. Dr. Hintermair in Heidelberg abzuhalten. Hierbei präsentierte sie die Spezialambulanz des PI für hörbehinderte Familien. „Unser Angebot vor Studenten zu präsentieren war etwas Neues und eine spannende Erfahrung. Hiermit konnte ich angehende Sonderpädagogen für hörgeschädigte Kinder für die Aspekte sensibilisieren, die für eine gesunde psychosoziale Entwicklung und eine gute Lebensqualität unabdingbar sind und bei der ausschließlichen Ausrichtung auf technische Versorgung und Sprachentwicklung häufig aus dem Fokus geraten, “ äußerte Cordula Münz nach der Veranstaltung.
Kontakt
Christiane Braun, Sekretärin
Pfalzinstitut – Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Tel. 06349 900-3001
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